JUHA-HEIKKI TIHINEN

Sichtlich berührende Flüchtigkeit und malerische Offenheit


Die Malerin Maaria Märkälä gründet ihr Werk auf Wahrnehmungen und Wirklichkeitserfahrungen, aber als Endergebnis entstehen ausnahmslos Bilder, in denen die Leidenschaft die Oberhand gewinnt und das Werk eine Interpretation der Erfahrung darstellt. In dieser Hinsicht erweckt sie die Erinnerung an den Maler Maunu Markkula (1905–1959), der als eine mythische Figur in der finnischen Kunstgeschichte angesehen wird. Markkula ist bekannt dafür, wie er durchgehend Visionen seines Innersten und nicht die übliche Wirklichkeit wiedergab, was wiederum seine Zeitgenossen verwirrte, da diese ja eine nördliche Landschaft zu sehen erwarteten, aber auf der Leinwand wedelten Palmen.


In den letzten Jahren hat sich Märkälä in ihrer Kunst von reiner Wahrnehmungs- malerei hin zu phantasievolleren Gebieten bewegt. Die Werke der Künstlerin sind heutzutage stärker mit einer auf Beobachtung beruhenden Erfahrung verbunden und stellen eigentlich nicht sich vor den Augen öffnenden Ansichten dar, sondern ein emotionales und erfahrungsmäßiges Gefühl, das an die Erinnerung gebunden ist. Früher malte die Künstlerin sogar im Freien und auf kleinerem Untergrund, heute jedoch findet das Malen meistens im Atelier statt, was sich wiederum in den Gemäldeformaten widerspiegelt.


Der französische Schriftsteller Georges Bataille (1897–1962) schreibt in seinem Werk Die innere Erfahrung folgendes: „was ich gesehen habe, entgeht dem Verständnis.“ In dem Zitat wird das Phänomenologische, das sich mit dem Sehen verbindet, betont, und zudem auch, wie das Erlebte in die erklärende und vereinfachte Deutungsgebung flüchtet, worin die komplizierten Erlebnisse mit einfachen Namens- schildern, die empfohlene Denk- und Funktionsmodelle präsentieren, versehen werden. Kunst ist gegen die Vereinfachung und spricht auf vielfältigere Weise über Erlebnisse.


Kunst ist ein Mittel, Situationen zu schaffen, in denen es möglich ist, mehrere Wirklichkeiten gleichzeitig zu erleben. Wenn man vor einem Kunstwerk steht und sich darin vertieft, ist man gerade eben dort aber auch anderswo, gleichzeitig versunken in Vorstellungen möglicher kommender Welten und in Erinnerungen anvergangene Erfahrungen. So bemerkt Bataille über erfahrene Vielfalt folgendes: „Ich nenne die [innere] Erfahrung eine Reise ans Ende des dem Menschen Möglichen.“


Bataille stellt fest: „die Erinnerung, die durch das Geräusch oder die Berührung hervorgerufen wurde, war reines Gedächtnis, frei von allem Projekt. Dieses reine Gedächtnis, in das sich unser »wahres Ich« einschreibt, das Ipse, das sich vom »Ich« des Projekts unterscheidet, setzt keine »ständig vorhandene, aber gewöhnlich verborgene Wesenssubstanz der Dinge« frei, es sei denn die Kommunikation, einen Zustand, in den wir versetzt werden, wenn wir aus dem Bekannten herausgerissen werden und in den Dingen nur noch das Unbekannte zu fassen bekommen, das sich gewöhnlich in ihnen verbirgt.“


Die Gemälde Märkäläs liegen auf der Grenze des Darstellenden und des Nicht- Darstellenden. Deswegen muss sich der Betrachter vor den Werken unvermeidlich mit der eigenen inneren Erfahrung auseinandersetzen. Die Arbeitsweise der Künst- lerin bringt Werke hervor, die zuerst blenden und danach zum Nachdenken anregen, was uns eigentlich erweckt hat. Das Unbekannte und das Bekannte vermischen sich in der visuellen Erfahrung, die sehr multiperzeptiv ist.


Im Hintergrund Bewegung


Es ist beim Betrachten der Gemälde Maaria Märkäläs nicht möglich, den kraftvol- len Materialismus ihrer Werke zu übersehen, was von einem sehr funktionellen Malprozess spricht. Die Künstlerin malt ihre Werke mit Pinsel, Palettenmesser oder sogar mit den Händen, wenn sie das am besten geeignete Werkzeug gerade für dieses Gemälde darstellen.


Der Kunsthistoriker Stephen Polcari schreibt darüber, wie die Gleichsetzung der Tanzkunstwerke der US-amerikanischen Choreografin und Tänzerin Martha Graham (1894-1991) mit der kontemporären Malkunst unsere Vorstellung des abstrakten Expressionismus erweitert. Laut Polcari kann man Spuren sowohl von abstrakten, organischen als auch von rhythmischen Bewegungen in Grahams Tanzkunstwerken sowie in Werken abstrakter Expressionisten erkennen. Das Betrachten der Werke Maaria Märkäläs erweckt ein mächtiges Gefühl, wie die Arbeitschoreografie der Künstlerin in den verschiedenen Schichten und Oberflächen verewigt wurde.


Bekennt sich die Künstlerin in ihrer Malerei zum Expressionismus oder geht es um etwas anderes? Maaria Märkälä liebt die schöne und schwungvolle Unbeküm- mertheit des Expressionismus, aber sie meidet die Auseinandersetzung mit den inneren und schmerzhaften inneren Erfahrungen, die des Öfteren mit dem Ismus verbunden sind. Laut der Künstlerin ist ihr Leben derart farbig gewesen, dass sie in ihrem persönlichen Ausdruck an Schönheit und Positivem interessiert ist. Für sie ist das Malen eine Kraft verleihende und positive Erfahrung, die fesselnd und wichtig sein kann, ohne Angst und Probleme.


Die materiell und farbenmäßig kraftvolle gemalte Spur ist nicht nur der Ausdruck eines inneren Gefühls in sichtbarer Form, sondern erlebtes Handeln, das mit Hilfe der Visualität stattfindet, wo man auf das Sichtbare in allen Formen zugeht. Märkälä erzählt, dass die Beobachtung die Grundlage ihrer Malerei gewesen ist, aber dass das mit der Beobachtung verknüpfte Erlebnis heutzutage das hauptsächliche Themen- gebiet ihrer Gemälde bildet. Zum Beispiel haben das Reisen oder das Radfahren zwi- schen ihrem Atelier und dem Zuhause beeinflusst, welche Themenwelten sie wählte.


Die Oberfläche der Gemälde Märkäläs scheint in konstanter Bewegung zu sein, weil die Malspuren sich sprichwörtlich zu bewegen und zu flimmern scheinen. Schon in den frühesten Gemälden mit den Berlin-bezogenen Themen schien die Oberflächenstruktur der Gemälde in Bewegung zu sein, aber der Schwung und die Lebhaftigkeit haben mit der Zeit zugenommen. Heute ist die Oberfläche der Gemälde aus verschiedenen Lagen aufgebaut und zeigt auch die Arbeitsspuren, so können die Betrachter erkennen, dass das Gemälde im Laufe eines mehrstufigen Prozesses ent- standen ist.


Die Künstlerin erschafft malerische Analogien für ihre Erfahrungen. In der Serie Tähtiyö (Sternennacht) hat die Übernachtung unter dem Sternenhimmel in der Wüste ihre malerische Analogie bekommen, worin die zu einem bestimmten Platz, Zustand und einer gewissen Atmosphäre verankerte Erfahrung durch die Sprache und Ausdrucksweise der Malerei dargestellt worden ist. Märkälä betont auch die Bedeutung des Auftragens der Farbe und erzählt weiter, dass dies ein genussvolles Tun für sie ist, weil es dadurch möglich ist, neue Welten zu erschaffen.


Die verführerische Kraft der Farbe


Die Farbe an sich ist für viele ein kraftvolles Erlebnis und deswegen kann es leicht irritierend sein zu denken, dass man vor Johann Wolfgang von Goethe (1749-1832) über die Farbenlehre vornehmlich mit den Termen der Optik argumentiert hat. Erst mit dem deutschen Dichter und Denker wurde auch die kulturelle und symbolische Deutung der Farben anerkannt. Goethe schreibt: „Es ist oben umständlich nach- gewiesen worden, dass eine jede Farbe einen besonderen Eindruck auf Menschen mache und dadurch ihr Wesen sowohl dem Auge als Gemüt offenbare. Daraus folgt sogleich, dass die Farbe sich zu gewissen sinnlichen, sittlichen, ästhetischen Zwecken anwenden lasse."


Goethe bemerkt über die verschiedenen Auslegungen der Farben weiter: „Daß zuletzt auch die Farbe eine mystische Deutung erlaube, läßt sich wohl ahnden. Denn da jenes Schema, worin sich die Farbenmannigfaltigkeit darstellen läßt, solche Urverhältnisse andeutet, die sowohl der menschlichen Anschauung als der Natur angehören, so ist wohl kein Zweifel, daß man sich ihrer Bezüge, gleichsam als einer Sprache, auch da bedienen könne, wenn man Urverhältnisse ausdrücken will, die nicht ebenso mächtig und mannigfaltig in die Sinne fallen.“


Wie die Mystiker streben auch die Künstler nach der tieferen Natur der Dinge. Von der sichtbaren Welt enthüllt Märkälä neue Seiten und Töne, die andernfalls unerreichbar blieben. Ihre Gemälde werden neue visuelle Beweisstücke, durch die unser Verständnis der Welt und ihrer Wesensart vielfältiger wird.


Maaria Märkälä ist auch ein gutes Beispiel einer zeitgenössischen Künstlerin, die jedes Mal ihre eigene Farbenwelt oder – wenn wir uns jetzt an die traditionellen Begriffe halten wollen – eigene Farbenlehre erschafft. Manchmal muss die Farbe nochmals erfunden werden, wie es mit Pink der Fall ist. Die Farbe vom Zucker- guss des Berliner Pfannkuchens, die Märkälä in der Serie Träumen von Berlin schon im Jahr 2002 verwendet hat, war jahrelang weg, bis Pink nach der Ausstellung mit den Themen zum Ende der Welt 2016 wieder ihre Rückkehr machte. Die Künstlerin bringt in ihren Werken die vielen Bedeutungen der Farbe Pink hervor, denn bei ihr bewegt sie sich zwischen wundersamer Pracht und sinnlichem Materialismus. Mit ihrem Pink weist Märkälä praktisch nach, dass die von vielen vermiedene und für allzu süß gehaltene Farbe Pink eigentlich ein ganz vorzüglicher und vielfaltiger Ton in den richtigen Händen ist. Auch diesmal lässt die Künstlerin ihre eigene Fähigkeit bezaubert zu sein sichtbar werden und zeigt, dass sie der Farbe zu neuen und wun- dervollen Ansichten folgt.


Märkäläs Gemälde zeugen deutlich von der Fähigkeit der Künstlerin, immer wie- der von Dingen, die sie in ihrer Malerei hervorhebt, bezaubert zu werden. Gleich- zeitig schafft sie neue visuelle Realitäten, die ihre Ausdrucksweise und Denkweise enthüllen. Dies wird mit dem Malprozess das Seiende. Könnte Märkäläs Weise zu malen als Verkörperung der Wahrnehmung beschrieben werden, wenn die visu- elle Erfahrung durch den Körper der Künstlerin in einer materiellen und haptischen Form auf die Malgrundlage übergeht?


Zum Schluss – Die Welt der Künstlerin aus Erfahrung und Material


Maaria Märkälä hat oft darüber geredet, wie alles durch das Malen geht, was man genießen sollte. Sie selbst fasst ihr künstlerisches Denken mittels einiger im Radio gehörter Aphorismen zusammen. Laut dem ersten Aphorismus ist die Kunst sowohl das Sein als auch der Stoffwechsel. Ein anderer, ihrer Meinung nach auch treffen- der, Ausdruck ist der Gedanke, der von dem Schriftsteller und Theaterregisseur Juha Hurme zitiert worden ist, dass man am Anfang eines Projektes etwas Neues und Feines zu tun denkt, aber zum Schluss merkt man, dass das Ergebnis das gleiche Tralala wie früher ist.


Das Trällern kann man auch als einen emotionell-erfahrenen Ausdruck bezeich- nen, mit dem die Künstlerin etwas Neues schafft, das von der Welt und dem dortigen Dasein etwas sehr Grundliegendes und Tiefes enthüllt. Vielleicht etwas Ekstatisches und mit unserer Existenz Verbundenes.


JUHA-HEIKKI TIHINEN



1 Bataille 2017


2 Bataille 2017


3 Bataille 2017


4 Polcari 2005,


5 Goethe 1970, S. 189 (Abt. 6, §915)


6 Goethe 1970, S. 189–190 (Abt. 6, §918)


7 Bataille 2017, S. 87–88


8 Damisch 1996, S. 85